Kapitel Echo. Diskurs / chapter echo. discourse

Meinungen / Diskurs

 

Kommentar
Thomas Nicolai / AAA.   [ Samson ist ein Monster. ]


Datum


Kommentar

24.11.2015,
23:00

Lieber Martin,
 
ich bin froh, dass es gleich zu Beginn angesprochen wird - ich bin ganz Deiner Meinung:
SAMSON ist ein Monster.
Wer mit heutigem Moralverständnis diesen bizarren Text liest (inhaltlich, nicht sprachlich), kann nicht anders,
als diesen rachsüchtigen, rücksichtslosen Egozentriker SAMSON zu verurteilen.
So einen selbstgerechten Fanatiker will man nicht in seiner Nachbarschaft, schon gar nicht will man mit ihm im
gleichen Haus wohnen.
(hier noch mal zum Nachlesen: Richter, Kap. 13, 14, 15, 16: Schimschôn/Samson)
 
Die Bibelwissenschaft bemüht sich zu beteuern, „dass den zum Teil recht drastischen Gewaltmaßnahmen
Samsons jeweils eine Provokation der Philister vorausging.
Samson handelt also nicht als willkürlicher Aggressor, sondern reagiert lediglich auf die Injurien seiner Gegner.
An verschiedenen Stellen wird besonders betont, dass nicht Samson die Verantwortung für die eskalierende
Gewalt trägt, weil er nicht der Initiator des Unrechts ist, das seine Beziehungen zu den Philistern immer wieder
vergiftet.“ (Zit. Andreas Scherer / wiss. Bibellexikon)
 
Diese fast mantraartigen Rechtfertigungsformeln, welche man immer wieder liest, lassen eher vermuten, dass hier
ein liebgewonnenes Stück geistiges Kulturgut gegen die nüchterne Alltagslogik des abgeklärten Normalbürgers/
Mitteleuropäers in Schutz genommen werden soll, was natürlich scheitern muss. Die Bibel ist alles andere als
alltagstauglich. Doch muss sie deswegen gekürzt oder umgeschrieben werden?
 
Wenn wir den Text ernst nehmen wollten und in die heutige Zeit übertragen, steht außer Frage:
Samson ist verantwortlich für die eskalierende Spirale von Gewalt und Gegengewalt.
 
Alles begann mit der unmoralischen Herausforderung der 30 Gefährten - jenes unlösbare Rätsel, welches nichts
anderes bedeutet, als „ohne Einsatz Gewinn machen“. Auch wenn die List geglückt wäre, ist das im heutigen
Verständnis unlauterer Wettbewerb. Doch Samson ist zudem ein schlechter Verlierer, seine Reaktionen sind
unverhältnismäßig und gewissenlos.
SAMSON ist der Initiator einer blutigen Vendetta, dieser überwunden geglaubten Form archaischen Konflikt-
bewältigung, die schleichend wieder in unsere heile schöne Welt sickert.
So etwas brauchen wir nicht. Davor haben die Menschen Angst und laufen auf die Straße.
 
Das Christentum (wie auch der Buddhismus) haben uns gelehrt, „die andere Wange hinzuhalten“, wenn es sein
muss. Gewaltfreie Konfliktbewältigung und Deeskalation setzt die Bereitschaft zur Demut voraus, die Einsicht auf
sein Recht zu verzichten, wenn es einem höheren Zweck dient.
Diese Erkenntnis hat seit ihrer Erfindung fast 2000 Jahre gebraucht, um in den Köpfen anzukommen. Wir Kinder
der Aufklärung sind bedacht darauf, unseren Zorn und unser Ehrgefühl mit Vernunft zu kontrollieren.
 
Wer Wohlstand kennt, kann manchmal auf die Ehre verzichten. Wer arm ist, hat oft nicht mehr als seinen Stolz.
Wer verlässliche Regeln kennt, braucht das Recht nicht selbst in die Hand zu nehmen.
.
 
Martin, Deine Frage war: Kann das samsonsche Verhaltensmuster als künstlerisches Leitbild dienen?
Kann man ein Monster lieben?
 
 
 
 
(Fortsetzung folgt)  
 

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